Aktenzeichen XY abgelöst

Nüchterne Fakten statt dunkler Angstgefühle

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Ist man nach Feierabend zu geschafft, um noch ins Kino zu gehen oder zum guten Buch zu greifen, dann zappt man womöglich nach der Tagesschau durch die Fernsehkanäle. Und könnte immer noch hängenbleiben bei „Aktenzeichen XY ungelöst“.

Es ist fast wie ein Ausflug in die Kindheit. Eine Sendung, älter als die mit der Maus. Seit 1967 ist sie im Programm. Und durchaus wirksam. Denn nach dieser Sendung geht man wohl erst recht nicht mehr los ins Innenstadtkino, prüft eher nochmal, ob Wohnungstüren und Fenster gut geschlossen sind.

Ein Unsicherheitsgefühl kann diese Sendung also durchaus noch hervorrufen. Ängste, oft genug irrationale, die regelmäßig auch in Wahlkämpfen bedient werden, in denen die Forderungen nach mehr Sicherheit, besserer Polizeiausrüstung und einem konsequenteren Durchgreifen der Justiz nach wie vor beliebte Slogans sind.

Wer sich beim Thema Kriminalität und Sicherheit aber nicht allein auf sein Gefühl verlassen möchte, dem sei an dieser Stelle ein kleines, aber gewichtiges – und vor allen Dingen gut lesbares Buch empfohlen. Es stammt aus der Feder von Jörg Kinzig, Professor für Strafrecht und Direktor des Institutes für Kriminologie der Universität Tübingen und ist 2020 unter dem Titel „Noch im Namen des Volkes? Über Verbrechen und Strafe“ im Züricher Verlag Orell Füssli erschienen.

All den Ansichten von Stammtischen und in den Sozialen Medien vom Ansteigen der Kriminalität, der Kuscheljustiz, den Luxusknästen oder der hohen „Ausländerkriminalität“ stellt er in seinen dezidiert aufklärerischen, differenzierten und antipopulistischen Ausführungen nüchterne Fakten und kluge Gedanken gegenüber.

Als ausgewiesener Wissenschaftler arbeitet der Autor mit Quellen und Statistiken, die er kritisch liest und interpretiert.

Offenkundig aber ist, dass nach der polizeilichen Kriminalitätsstatistik die Zahl der angezeigten Delikte seit Jahren tendenziell rückläufig ist. Dies gilt besonders auch für Gewaltdelikte Jugendlicher bzw. Heranwachsender. 

Wo aber diese Statistik genommen wird, um den nicht zu leugnenden Anstieg sexueller Gewaltdelikte oder den hohen Anteil von Ausländern bzw. Zugewanderten an den angezeigten Straftaten politisch zu instrumentalisieren, da leitet Kinzig zu einer kritischen Lektüre der Statistik an.

So lässt sich der Anstieg bei Sexualdelikten  vor allem auf die Ausweitung des Sexualstrafrechtes (Aufnahme des Straftatbestandes der sexuellen Belästigung §184i StGB, Novellierung des §177 Abs.1 StGB „Sexueller Übergriff“ durch Einführung der „Nein heißt Nein“-Lösung) zurückführen.

Nicht zu leugnen ist auch, dass der Anteil „ausländischer Straftäter“ an der Gesamtkriminalität sich zwischen 2009 und 2016 fast verdoppelt hat. Doch bei genauem Hinsehen eignet sich dies in keiner Weise für Wahlkampfparolen, die mit der vermeintlichen Gefahr von „Ausländerkriminalität“ und „Messermännern“ fremdenfeindliche Stimmung machen wollen.

Zum einen relativiert sich die hohe Zahl schnell, wenn klar wird, dass die Statistik auch die „ausländerrechtlichen Verstöße“ erfasst. Verstöße also, die von Deutschen gar nicht begangen werden können. Nachweisbar ist auch, dass die Anzeigebereitschaft bei Delikten von Menschen anderer Herkunft höher ist. Und nicht auszuschließen ist, dass „fremdländisch“ aussehende Menschen von der Polizei stärker kontrolliert werden.

Auch kann in der Kriminologie nicht alles nur mit einer Statistik erklärt werden. Liest man parallel Statistiken über Wohnverhältnisse, Bildungschancen und Einkommen, dann wird schnell klar, dass die Gruppe der Migranten tendenziell höhere Risikofaktoren aufweist als die deutsche Wohnbevölkerung. Der Anteil der Männer ist höher und Menschen mit Migrationshintergrund sind im Durchschnitt wesentlich jünger. Und weltweit ist die Chance, in einer Kriminalitätsstatistik aufzutauchen für junge Männer einfach am höchsten. 

Weit wichtiger ist es, zu sehen, dass Flüchtlinge, die seit 2014 aus Ländern wie Afghanistan, Syrien oder dem Irak nach Deutschland gekommen sind, in der Kriminalitätsstatistik kaum auffallen.

Dass dies bei Zuwanderern aus den Maghreb-Staaten anders aussieht, ist wiederum nicht zu leugnen. Aber der populistische Versuch, dies mit deren kulturellem oder religiösen Hintergrund erklären zu wollen, ist schlicht fehl am Platz. Denn der Anteil von jungen Männern, die eben auch unter den deutschen Straftätern die weitaus größte Gruppe in der Kriminalitätsstatistik bilden, ist bei den Zuwanderern aus Nordafrika überproportional hoch. Dazu kommen die fehlenden Bleibeperspektiven, beengte Unterkünfte, ein unstrukturierter Alltag mangels Beschäftigungsmöglichkeiten und prekäre finanzielle Verhältnisse.

Hilfreich ist auch, was Kinzig über den Strafvollzug zu sagen hat und an Fakten all den Rufen nach einem „Wegschließen“ entgegensetzt. Denn der Freiheitsentzug und die Inhaftierung von Delinquenten machen eine Gesellschaft nicht sicherer und bestimmt nicht besser. Es sei denn, man könne nachweisen, dass das Leben in den USA, wo 2016 von 100.000 Einwohnern 655 Menschen im Gefängnis saßen, sicherer ist als in der Bundesrepublik mit 77,5 oder Finnland mit 51,1 Gefängnisinsassen auf 100.000 Einwohner.

Nicht zuletzt macht der Gefängnisaufenthalt einen Delinquenten nur selten zu einem Menschen, der künftig nicht mehr straffällig wird. Die Rückfallquote nach einer Freiheitsstrafe ist um ein Vielfaches höher als bei Geld- oder Bewährungsstrafen. Bessere Chancen, nicht mehr straffällig zu werden, haben diejenigen, die stattdessen Bildung und Ausbildung erhalten, eine Wohnung und die Begleitung durch Bewährungs- oder Straffälligenhilfe.

Womöglich wäre dies auch aktuell die bessere Lösung bei den relativ harten Urteilen zu den Straftaten in der Krawallnacht des vergangenen Sommers in der Stuttgarter Innenstadt. Selbstverständlich gehören diese Taten vor Gericht und auch bestraft. Doch jungen Männern hilft dies nur selten, später ein gesellschaftsfähiges Leben zu führen. Und eine Gesellschaft wird dadurch nicht einfach sicherer.

In dem genannten Buch von Jörg Kinzig ist noch einiges mehr über Verbrechen und Strafe, das Strafrecht und zur Kriminologie zu lernen.

Ein Abend mit diesem Buch lässt einen darum ganz bestimmt klüger zurück – und vielleicht auch besser schlafen als ein ungelöstes Aktenzeichen XY.

Der Theologe Wolfgang Mayer-Ernst ist seit 2014 Studienleiter für den Themenbereich „Gesellschaft, Politik, Staat“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Politik und Recht.

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