Die alles bestimmende Corona-Krise legt sich nach meinem Eindruck wie Mehltau auf die Gesellschaft. Die soziale Energie erlahmt. Zugleich erlebe ich vermehrt: Mitmenschen erkennen, dass es so mit uns nicht weitergehen kann und darf. Es sollte eine „neue Normalität“ entstehen. Noch ist sie sehr fern. Und ich hoffe sehr, dass der Veränderungswille nicht sofort wieder erlahmt, wenn ein Impfstoff zur Verfügung steht.
Worin aber könnte sich die „neue Normalität“ auszeichnen? Was „normal“ ist oder sein sollte, bestimmt sich für mich durch die zehn biblischen Gebote, die Thomas Mann 1942 als die „Quintessenz des Menschenanstandes“ bezeichnet hatte. Ich habe sie in der Schule gelernt und im Konfirmandenunterricht verinnerlicht. Für die Zeit der Corona-Krise und vor allem für die Zeit danach möchte ich einmal versuchen, diese „Quintessenz des Menschenanstandes“ zu „übersetzen“ und in unsere Situation zu übertragen.
Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.
Erstes Gebot: Vertraue dem, der Dir die Freiheit zum Atmen gegeben hat. Auf ihn setze die Hoffnung. Vertraue nicht den Stimmen derer, die sagen: Wir müssen jetzt oder ganz bald wieder voll durchstarten. Wir brauchen das Größer-Werden, um leben zu können. Lass es nicht zu, dass dieses Denken zum Gott Deines Lebens wird.
Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz gebrauchen.
Zweites Gebot: Verwechsele nicht die Namen. Jetzt nicht, und auch nicht in der Zeit nach der Corona-Krise. Wohlstand und Wohlsein ist etwas anderes als Wachstum und Weitermachen. Das, was Du in der Krise gelernt hast, verfolge auch weiterhin: die Achtung vor den sozialen Diensten.
Du sollst den Feiertag heiligen.
Drittes Gebot: Die Corona-Krise hat Dir gezeigt, dass Du nicht sieben Tage in der Woche ein Held sein musst. Du bist eingebettet in ein Geflecht von nahen Beziehungen. Dies hast Du in der Krise gebraucht. Lass Dich auch in Zukunft an mindestens einem Tag pro Woche daran erinnern.
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
Viertes Gebot: Ehre Deine Vergangenheit. Ehre diejenigen, die schon vor Dir das Beste gegeben haben. Achte Deine Region, in der Du groß geworden bist. Du musst nicht die ganze Welt erobern. Die Corona-Krise hat Dir gezeigt, wie wichtig und auch schön Deine Region ist.
Du sollst nicht töten.
Fünftes Gebot: Gehe nicht über Leichen. Erst recht nicht, wenn es um ein grenzenloses Wachstum geht. Achte das Leben der Anderen, auch wenn Deine Freiheit damit an Grenzen kommt. Wähle den Weg des Lebens.
Du sollst nicht ehebrechen.
Sechstes Gebot: Du brauchst eine Partnerin oder einen Partner, wenn es um Dein Wohlsein geht. Dringe nicht deswegen in die Privatsphäre Deiner Mitmenschen ein. Auch wenn Du nach der Krise immer mehr digital unterwegs sein wirst.
Du sollst nicht stehlen.
Siebtes Gebot: Achte das Gemeineigentum. Die Luft, die Wälder, das Wasser gehören dazu. Sie waren in der Corona-Krise oft genug Dein Hoffnungsort. Erinnere Dich immer wieder daran. Eigne Dir das Gemeineigentum nicht so an, als wenn es nichts kosten würde. Das wäre Diebstahl.
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Achtes Gebot: Mache den Mitmenschen nicht schlechter als er ist. Du brauchst Deinen Nachbarn. Wer schlecht über andere Mitmenschen redet, soll sich auch nicht wundern, dass die gesamtgesellschaftlichen Zustände verworrener und aggressiver werden.
Du sollst nicht begehren deinen Nächsten Haus.
Neuntes Gebot: Es ist genug da. Du musst nicht hamstern. Du hast erlebt: Nachschub kommt. Die Welt ist voller Güter. Manchmal musst Du einfach nur warten.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh, noch alles, was sein ist.
Zehntes Gebot: Jede und jeder soll die Möglichkeit haben, sich wirtschaftlich entfalten zu können. Dazu braucht sie oder er in Krisenzeiten auch Hilfen von der Gemeinschaft. Rege Dich darüber nicht auf. Trage es vielmehr mit. Auch das ist gelebtes Gemeinwohl.
Da wir in diesen angespannten Zeiten den Dialog benötigen, freue ich mich auf Ihren Kommentar!
Schreiben Sie den ersten Kommentar.