Der Jahresreport des renommierten Zukunftsinstituts in Frankfurt hat auf den Punkt gebracht, was derzeit viele fühlen: Ein Megatrend unserer Zeit ist „Sicherheit“. Ja, wir befinden uns gefühlsmäßig im Zustand des Daueralarms. Eine Krise jagt die nächste, und die Corona-Pandemie hat uns auch physisch klar gemacht, wie zerbrechlich das Leben auf unserem Planeten und wie fragil unser eigenes Dasein ist. Wie können wir den instabilen Zustand unserer Zeit überwinden? Wie finden wir als Einzelpersonen und als Gesellschaft wieder zu einem Gefühl von Sicherheit zurück? Wie können wir mit dem Bewusstsein von Fragilität überhaupt umgehen? Immer mehr rücken diese Fragen in den Mittelpunkt unseres Denkens, Fühlens und Handelns.
Zehn Jahre ist es mittlerweile her, dass Nassim Taleb, ein international anerkannter Forscher für Risk Engineering, ein Buch verfasst hat, das fast ein Jahr lang auf der Bestsellerliste stand: „Anti-Fragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen“. Nach der Finanzkrise 2007/2008 sowie den Rettungsschirmen, die staatlicherseits überall aufgespannt wurden, um Finanzinstitute mit Steuergeldern zu retten, entwarf Taleb damals eine evolutionäre Theorie des Zufalls. Auf der Welt, so seine Darstellung, gäbe es Systeme, die fragil, instabil und störanfällig sind. Und diese Systeme werden untergehen. Dafür hat Taleb allerdings kein Bedauern übrig – im Gegenteil. Denn er schätzt Systeme, die zufalls-affin sind, die robust mit dem Chaos umgehen können, die Störungen als Herausforderungen ansehen und als die fittesten überleben werden. „Anti-Fragilität“ nennt er deren innere DNA. „Wenn du fragil bist, bist du davon abhängig, einem genau geplanten Kurs zu folgen, mit so wenig Abweichung wie möglich – weil Abweichungen immer mehr Nachteile als Vorteile bringen. […] Wenn Du nach Umwegen suchst, und du hast kein Problem mit Störungen, weil ihr Resultat immer vollkommen ist, dann bist du antifragil.“ Überleben kann in unsicheren Zeiten nur derjenige, der Unsicherheit, Chaos und Zufall liebt und umarmt. Frei nach dem Motto: Was uns nicht umbringt, macht uns härter. Deswegen sind Veränderungen wunderbar und nur zu begrüßen: Kommt her, Veränderungen, ich werfe mich in eure Arme! Dies halte ich für eine steile These.
In diesen 2020er Jahren, in denen die Unsicherheiten massiv zunehmen, fühle ich mich an das provokante Buch von Taleb und seine Thesen zur Anti-Fragilität erinnert. Ja, die „sicheren“ Zeiten der 2010er Jahre liegen hinter uns, und es kommt darauf an, so etwas wie Unsicherheitskompetenz in schwierigen Zeiten zu entwickeln, also eine ausgewogene Balance von Veränderungsbereitschaft und Sicherheit. Den Wandel, die Störung oder die Unsicherheit immer auch als Chance zu begreifen, das kann Taleb lehren. Und daran, so meine ich, müssen wir uns in einer vernetzten Welt immer wieder erinnern. Dass „der Staat“ uns rundum schützt und absichert, das war einmal. Solche Zeiten sind vorbei. Vermutlich sogar endgültig. Aber die andere Seite darf dabei nicht auf der Strecke bleiben: dass wir verwundbare Menschen sind und bleiben. Nur wer verwundbar ist und bleibt, wird mit Unsicherheiten produktiv umgehen können. Nur wer, der seine Verwundbarkeit offenlegt und nicht als der Fitteste aller Fitten überspielt, wird dazu beitragen, dass ein Miteinander auf allen Ebenen entsteht. Und genau solch ein Miteinander und solch eine Solidarität benötigen wir in unsicheren Zeiten. Als Christinnen und Christen sollten gerade wir um diese andere Seite, um die Verwundbarkeit des Menschen, wissen. Denn sie wird im Menschensohn ansichtig – gerade jetzt, wenn bald die Passionszeit beginnt. Jesus Christus führt der Welt vor Augen: Wer sich verwundbar zeigt, der wird anti-fragil genannt werden. Die Erinnerung daran scheint mir in diesen unsicheren Zeiten dringend nötig zu sein, um resilient durch die 2020er Jahre zu kommen.
Was schenkt Ihnen Sicherheit? Wie gehen Sie mir diesen unsicheren Zeiten um? Auf welches Fundament können Sie bauen? Was schenkt Ihnen die Perspektive des Evangeliums? Ich freue mich auf Ihre Kommentare!
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