Was ist Aufgabe einer Akademie?
Meine These: Eine evangelische, katholische oder islamische Akademie wendet sich nicht an den Kreis ihrer Mitglieder, sondern ihre vorrangige Aufgabe besteht darin, Wege aus der Welt des Glaubens in die Zivilgesellschaft hinein zu eröffnen. Die Akademien eines religiösen Verbandes haben damit Anteil am Missionsauftrag der jeweiligen zivilgesellschaftlichen Aufstellung in einer Gesellschaft und eben nicht primär am Missionsauftrag des jeweiligen Verbandes. Das macht ihren Status als Sonderling nach innen wie nach außen aus, aber paradoxerweise ist gerade dieser Status als Sonderling inmitten der Zivilgesellschaft auch der Grund ihrer Existenzberechtigung - gerade auch deswegen, weil sie von ihren religiösen Wurzeln nicht loslassen! Diese These wird nun in sechs Schritten entfaltet. Ich wünsche eine anregende Lektüre!
Akademiedirektor Prof. Dr. Jörg Hübner
Entfaltung 1: Der Missionsauftrag der Zivilgesellschaft
Wer von Zivilgesellschaft spricht, der redet von spezifischen Qualitäten sozialen Verhaltens:
- Dazu gehört die Abgrenzung von Gewalt und Barbarei. Wer von Zivilgesellschaft redet, der meint damit den Verzicht auf physischer Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Interessen.
- Zivilgesellschaft meint ein soziales Handeln, das von den Prinzipien Fairness, Toleranz, Vielfalt und Anerkennung des Anderen beherrscht wird. Es geht um die Verheißung sozialer Egalität und belebender Transkulturalität.
- Hinzu kommt das Prinzip der universalistischen Gemeinwohlorientierung. Zivilgesellschaftliche Gruppen kritisieren die Auswüchse einer kapitalistischen Wirtschaftsstruktur.
Entfaltung 2: Die Aufgabe der Akademien in der Zivilgesellschaft
Der Soziologie Hartmut Rosa nennt solche Handlungsweisen der Zivilgesellschaft Formen resonanter Lebensführung: Die Steigerungsdynamik mit ihrer alle Lebensbereiche durchziehenden Beschleunigung wird durch genossenschaftliche Lebensformen sowie durch eine antwortende Weltbeziehung überwunden.
Wenn die Akademien an diesem Missionsauftrag der Zivilgesellschaft Anteil haben, dann sind sie Resonanzräume besonderer Art. Akademien sind für die Zivilgesellschaft Orte der Verstärkung und Verdichtung, aber auch Orte der Vernetzung und der Selbstreflexion dieser sozialen Handlungsweisen.
Entfaltung 3: Zivilgesellschaft und Religionen
In der Vergangenheit wurde Zivilgesellschaft als Modell einer säkularisierten Gesellschaft freier und selbständiger Individuen beschrieben. Es erschien als geradezu als Fortschritt von Zivilität, wenn gesellschaftliche Prozesse religionsneutral hergeleitet werden. Diese Fundamentalopposition ist heute zu überwinden: Wir befinden uns in einer Phase der Wiederentdeckung des Religiösen. Religionen und Zivilgesellschaft stehen in einer lebendigen Beziehungsgeschichte zueinander - und die Akademien stehen in der Mitte eines solchen Prozesses. Religionen können sich zu einem inspirierenden Moment innerhalb der zerrissenen und im Umbruch begriffenen Postmoderne mit ihren gewaltigen gesellschaftlichen Herausforderungen entwickeln. Religiös getragene Akademien vertiefen diesen Prozess.
Entfaltung 4: Die Kolonialzeit als Beispiel für die Beziehungsgeschichte zwischen Zivilgesellschaft und Religion
Es gibt Indizien dafür, dass die Zivilgesellschaft gerade am Einfluss der Religionen gewachsen ist. Erstaunlicherweise lässt sich dies an der Missionsgeschichte in der Kolonialzeit belegen: Erstens wurden Frauen in den öffentlichen Ämtern der Kolonien eingesetzt, was den Ausschluss der Frauen aus der Politik in den Basisländern zunehmend unplausibel machte. Zweitens führte die Bibelübersetzung in die Sprache der Missionierten gerade zu einer positiven Würdigung und Auseinandersetzung mit der fremden Kultur und damit zu einer Pluralisierung von verschiedenen Kulturen. Drittens widersprachen Missionare den Exzessen physischer Gewalt in Namibia oder China. Sie entwickelten ein kritisches Potenzial gegenüber der Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung eigener Interessen. Soziale Inklusion, Gewaltfreiheit und Pluralität wurde in den Missionsgebieten erprobt und ließ die Zivilgesellschaft in Europa mit entstehen. Bad Boll mit der China-Mission von Richard Wilhelm und sein Dialog mit Christoph Blumhardt ist ein schönes Beispiel dafür. Die Evangelische Akademie wurde nicht zufällig in Bad Boll gegründet!
Entfaltung 5: Akademien sind mehr als institutionalisierte Dauerreflexion
Der Soziologe Helmut Schelsky deutete in den 1950er Jahren die Akademien als humanitätsförderliche Orte institutioneller Dauerreflexion in einer Demokratie. Lange Zeit wurde der Diskurs als Markenzeichen der Akademien als Teil einer lebendigen Zivilgesellschaft definiert. Ein solches Verständnis reicht nicht mehr aus: Akademien sind nicht nur "Geschwätz-Gemeinden" (H. Schelsky), sondern üben neben dem Diskurs Momente gelebter Spiritiualität ein und benötigen die Tagungsarbeit ergänzende Projekte. Akademiearbeit, die am Missionsauftrag der Zivilgesellschaft Anteil hat, besteht heute aus Diskursen, Spiritualität und Projektarbeit. Die drei Resonanzachsen, die horizontale, die diagonale und die vertikale (H. Rosa) finden in der Akademiearbeit zusammen.
Entfaltung 6: Eine Akademie pflegt eine spezifische Akademietheologie
Eine Akademie ist bewusst immer auch eine religiöse Akademie. Sie lässt die Welt als eine Totalität und als ein Universum erscheinen. Sie kommt um der Lebendigkeit der Zivilgesellschaft ohne eine bewusste Gestaltung der vertikalen Resonanzachse nicht aus. In ihr wird eine Theologie des Zusammenlebens gepflegt. Dazu gehören: Eine religiöse Reflexion der primären Beziehung des Menschen zur Natur, die Entfaltung des besonderen Charakters von Gaben, das Bewusstsein, dass niemals ein Mensch aufgegeben werden darf, der friedensförderliche Dialog der Religionen sowie der Verzicht auf jede Form von gewaltbeladener Kommunikation. Eine Akademie-Theologie ist eine Theologie des Konvivialismus - möglicherweise auch eine Zumutung für den sie tragenden religiösen Verband!